Angela Merkel hat mich als weibliches Vorbild einen Großteil meiner Führungskarriere hindurch begleitet. Und mehr als einmal habe ich mich gefragt: Wie hättest du agiert? Nur um dann festzustellen, dass ich gar nicht das volle Bild kenne. Es sind so viele (internationale) Mitspieler und Interessen, die es abzuwägen gilt. Seit 20 Jahren arbeite ich fast nur mit Männern und das sehr gerne. Gleichzeitig weiß ich auch, dass es eben keine Selbstverständlichkeit ist, als Frau an exponierter Stelle zu stehen. Dass auch gebildete Männer (und Frauen) nicht immer fair spielen, dass es neben der eigentlichen Aufgabe ausreichend Grabenkämpfe gibt. Die Interessen der Weggefährten gehen auseinander, aus politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Gründen. Da geht es auch um Werte, die im Konflikt zueinander stehen: Freiheit und Verantwortung, zwei meiner stärksten Werte, gehen nicht immer gut Hand in Hand. Und dann ist da noch die Öffentlichkeit. Plötzlich weiß jeder Bürger am besten, wie eine Kanzlerin zu agieren hat, was zu tun und zu lassen ist. Die Kommentare in den sozialen Medien sind im seltensten Fall konstruktiv, sondern oft nur beleidigend und beschämend.
Angela Merkel ist eines meiner Vorbilder. Ich erkenne Aspekte meiner Persönlichkeit wieder und Eigenschaften, die ich gerne besäße. Gleichzeitig bin ich mit vielen ihrer Handlungen und Entscheidungen nicht einverstanden. Muss ich auch nicht. Denn auch meinen Mann liebe ich über alles und in manchen Situationen bringt er mich trotzdem zur Weißglut. Wer von uns ist schon perfekt. Wer kann schon behaupten, immer die richtigen Entscheidungen zu treffen (zumal sich das oft erst im Nachhinein herausstellt).
Wir predigen Wasser und trinken Wein.
Wir setzen unternehmerisch auf eine Fehlerkultur und sprechen diese Möglichkeit, Fehler zu machen, den Politikern ab, als ob sie ein Neutrum und nicht menschlich wären. Wir gestehen uns selbst zu, dass wir nicht jederzeit alle Themen gleichermaßen im Griff haben, aber eine Kanzlerin darf gleichzeitig alle Herausforderungen in der Innen- und Außenpolitik perfekt meistern. Delegation ist nur so lange prima, wie sie bitte schön selbst in allen Details Rede und Antwort stehen kann. Ihre Detailkenntnis ist ohnehin höchst erstaunlich… Wir verlangen Kooperation zwischen Teams und mäkeln dann daran herum, wenn eine Kanzlerin genau das tut, anstatt mal richtig auf den Tisch zu hauen. Weil wir es dann als zögerlich empfinden. Genau dieselbe Mär höre ich immer wieder beim Thema weibliche Führungskräfte. Erst schätzen alle Empathie, wenn es aber um die Einstellung einer neuen Führungsperson geht, bevorzugen die Chefs dann doch wieder Entscheidungsstärke. Und überhaupt: Finden wir Empathie wirklich gut? Weil das ja auch bedeutet, dass man die Gedankenwelt derjenigen nachempfinden kann, die wir völlig unsympathisch finden.
Was hättest du getan?
Ich bin genauso oft frustriert mit der Politik. Gerade in der Krise hatte ich zu oft das Gefühl, dass Unternehmer*innen die Welt retten. Während Lehrer Monate nach Beginn der Krise noch immer keine Laptops hatten, aber schon im Home Schooling waren, war es völlig selbstverständlich, dass Unternehmen ab Minute 1 auf Home Office umstellen. Hätte ich diesen Punkt besser gemacht? Ja, ziemlich sicher. Das ist nämlich nur gutes Management, sich die Frage zu stellen, ob alle Stakeholder die Ressourcen haben, die sie für die bestmögliche Arbeit benötigen. Gleichzeitig hätte ich keine Ahnung gehabt, wie ich mich warum für welche Einschränkung im gesellschaftlichen Leben entschieden hätte. Denn ich beurteile meine Welt nur aus meinem Blickwinkel heraus und muss nicht für Jung und Alt, Krank und Gesund etc. mitentscheiden. Dieselbe Erfahrung durfte ich auch als Vorständin machen. Du versuchst eine Lösung für alle zu finden, aber ein Teil wird sich immer schlecht behandelt fühlen.
Wann kann ich Vertrauen schenken
Vertrauen basiert wissenschaftlich auf wesentlichen Faktoren: Kompetenz und Leistung sowie Wohlwollen. Kompetenz zeigt sich in der Fachkenntnis, in der Ausbildung, in bisherigen Erfolgen. Es sind ein Stück weit Vorschusslorbeeren, weil die Vergangenheit bekanntermaßen die Zukunft nicht vorhersehen kann. Wohlwollen beschreibt, ob die handelnde Person es gut mit mir meint. Und da stehen für mich die Werte und die Absicht im Zentrum. Klar, gut gemeint ist nicht gut gemacht. Aber ich bin deutlich bereiter, Fehler zu verzeihen, wenn die Absicht transparent und positiv war und sich meine Werte in dieser Absicht wiederfinden.
Ich möchte heute bewusst kein Plädoyer geben für die Führungskompetenz von Angela Merkel, das mache ich an anderer Stelle einmal. Aber ich möchte dazu anregen, die Welt aus anderen Augen zu sehen. Sich gedanklich auf deren Stuhl zu setzen und sich zu fragen: Wie hätte ich entschieden, hätte ich es besser gemacht? Wenn wir reinen Herzens die Frage mit ja beantworten können, spricht nichts gegen öffentliche Äußerungen. Wenn ein Zweifel bleibt, sollten wir vielleicht besser vor der eigenen Haustür kehren. Gute Führung fängt bei Selbstführung und bei Selbstverantwortung an. Dazu möchte ich ermutigen.
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Über die Autorin
Sabrina von Nessen ist ein leidenschaftlicher Leader mit 20 Jahren Erfahrung in der Finanz- und IT-Branche. Ihre Begeisterung für Technologie hat sie in mehr als 15 Jahren als Führungskraft in gleicher Weise entdeckt und kultiviert wie die tiefgründige Leidenschaft für Emotional Leadership. Denn High Performance und damit Erfolg beginnen im Kopf des Einzelnen, dessen Emotionen und Glaubenssätzen. Ihr größtes Learning als Head of Product Management, IT oder Marketing bis zum C-Level: It all starts with „why“. Wenn Menschen erlernte Grenzen sprengen, entsteht Großartiges. Diese Überzeugung und eine große Neugier verhelfen ihr zum Erfolg beim Aufbau von Unternehmen, Teams, Strukturen und Prozessen.
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